Zusammenhänge – ein Buch von Wolf Lotter

In den letzten Monaten bin ich online öfter dem Autoren Wolf Lotter begegnet. Seine Essays in brandeins sind grossartig. Zum Beispiel beschäftigt er sich mit «Personalfragen» im Zeitalter der Digitalisierung. In «Durchblick» diskutierte er, dass die alte Welt Komplexität immer nur reduzieren wollte, während es in der neuen Welt darum geht, Komplexität zu erschliessen.

Weil ich den Artikel über Komplexität so toll fand, habe ich sein neustes Buch, «Zusammenhänge - Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen» gleich vorbestellt. Nun ist es erschienen und ich habe bereits die Hälfte gelesen.

Ich notiere hier einfach ein paar Zitate. Vielleicht wirkt es etwas zufällig, weil natürlich der Buchkontext fehlt. Wenn ihr Lust bekommt, die ganzen «Zusammenhänge» 😉 zu lesen, so empfehle ich, das Buch zu kaufen, 📺 Wolf Lotter in einem Interview zuzuhören oder das Buch von mir auszuleihen.

I. Die Kontextkompetenz

Zusammenhänge machen die Welt aus. Kontextwissen ist also eines, das auf beiden Beinen in der Realität steht - und das nicht nur in der Enge einer Disziplin, einer Blase oder in einem selbst wirkt. Jenes atomisierte Wissen nimmt seit Langem überhand. Es verhindert, dass wir souveräner im Umgang mit Veränderungen sind. Wissen heisst immer auch, anderes kennen und damit umgehen können. Wissen fürchtet sich nicht vor der Wirklichkeit, sie ist ihr Spiegelbild.

Wolf Lotter beschreibt, wie wir in der Wissensgesellschaft angekommen sind, uns jedoch noch nicht an die neuen Mechanismen gewöhnt haben.

Früher stifteten Herrscher und Parteien, Chefs und Manager einen Zusammenhang, den man nachbeten sollte. So wurde Komplexität reduziert. Man schnitt sie so lange zurecht, bis eine Wahrheit, eine Perspektive übrig blieb. Wenn die Transformation unserer Zeit etwas bedeutet, dann das: Das Zeitalter der Gleichmacherei, des Einordnens, geht zu Ende, allen Tyrannen und Populisten zum Trotz.

Kontextkompetenz heisst, Komplexität zu erschliessen, sie lauffähig zu machen für sich und für andere. Teilhabe, das meint nicht einfach, das, was da ist, neu zu verteilen, sondern es vielmehr so weiterzugeben, dass andere es nutzen - und nicht nur konsumieren können. Was da ist, soll Früchte tragen, zu Neuem und Eigenem führen.

Wir sind in der heutigen Welt angekommen, indem wir versucht haben, alles zu reduzieren und zu vereinheitlichen. Das hat uns einen materiellen Wohlstand beschert. Aber es hat eben auch viel zerstört. Wolf Lotter nennt es…

Feldzug gegen Vielfalt, Komplexität und dessen eigentliche Ursache, die Person.

Wir haben es durch unser technokratisches Verständnis der Welt so weit gebracht, viel von dem zu entfernen, was das Menschsein ausmacht.

Es geht um nichts weniger als die Entdeckung des Persönlichen, der Originalität der Einzelnen.

Diese Aufgabe ist aber nicht einfach.

Um Wissen produktiv zu machen, müssen wir lernen, sowohl den Wald als auch den einzelnen Baum zu sehen. Wir müssen lernen, Zusammenhänge herzustellen.

Peter Drucker

Wer Zusammenhänge herstellt, erschliesst, anbietet, verbreitet und teilt, ist ein Wissensarbeiter. Wir sollten nicht so tun, als sei all das einfach oder gar schon Realität.

Es geht um Zusammenhänge und auch um das Herstellen von Netzwerken.

Wer also von “Netzwerken” redet, sollte auch nach deren Charakter denken: offen, flexibel, überraschungsfähig und lernend.

Das Thema “Lernen” taucht immer wieder auf in diesem Buch und ist etwas, das mich viel beschäftigt und worüber ich oft in diesem Blog unter #Lernen schreibe. Ich habe das Gefühl, dass man langsam merkt, dass “Lernen” überall im Leben hingehört und nur zum Teil in die Schule.

Zusammenhänge erschliessen sich als Ergebnis von mehr als einem Zweifel und vielen Versuchen, Irrtümern und Experimenten, bevor wir, mit Glück, den Wald und die Bäume sehen.

Man landet nicht durch Konsum plötzlich in dem, was man eigentlich machen möchte. Selbstverwirklichung bedeutet viel Anpacken und viel harte Arbeit.

Der selbst gestellte Bildungsauftrag lautet: Verstehen, was ist, um es zu verändern.

II. Das Gewebe der Welt

Im zweiten Kapitel geht es darum, wie eine Kultur der Zusammenhänge aufgebaut werden kann.

Die Wissensgesellschaft ist eine Lerngesellschaft. Lernen bedeutet hier keineswegs, einen Kanon einfach aufzunehmen, sondern das vorhandene Wissen in immer neuen Kombinationen selbst weiterzuentwickeln. Bildung heisst nicht Auswendiglernen, sondern selbständiges Verstehen. Und Selbstbestimmung kommt ohne Bildung nicht aus. Wer ein eigenes Leben will und keines, das ihm bloss von anderen gewährt wird, der wird verstehen wollen, in welcher Welt er lebt, unter welchen Umständen und unter welchen Bedingungen.

Es braucht also für ein selbstbestimmtes Leben die Kontextkompetenz.

Menschen, die Zusammenhänge erkennen, werden als kreativ und intelligent bezeichnet. Für klug halten wir stets jene, die die Welt nicht nur so nehmen, wie sie ist, sonderne etwas aus ihr machen - weil sie in der Lage sind, noch nicht erkannte Verbindungen zu sehen und möglicherweise auch anzuwenden.

Ein schöner Satz ist auch:

Denken sortiert die Welt.

Lotter ermutigt, dass wir lernen, in Netzwerken zu denken.

Mache Wissen zugänglich, damit neues Wissen entstehen kann. Erkenne die Verbindungen zwischen deinem Denken und dem der anderen und schaffe neue Möglichkeiten daraus. Das ist erschlossene Komplexität.

Er bemerkt, dass wir damit sehr grosse Mühe haben. Wir lassen uns durch die Fülle der Informationen irritieren, weil wir nicht gelernt haben, in Netzwerken zu denken.

Nicht die Vielfalt strengt uns an, sondern dass wir nicht gelernt haben, mit ihr umzugehen.

Spannend finde ich, wie Lotter die Merkmale von guten und schlechten Zeiten beschreibt.

Schlechte Zeiten gebären das Entweder-oder, das Schwarz-Weiss-Denken, Systeme ohne Handlungsalternativen. Gute Zeiten sorgen für viel Irritation und Desorientierung. Unser Unbehagen mit den Zuständen ist also kein schlechtes, sondern ein höchst gutes Zeichen. Allerdings braucht es ein Verständnis für Mehrdeutigkeit, für ein Sowohl-als-auch und – denn nur dann macht das Sinn – die Fähigkeit, innerhalb dieser Wahlmöglichkeiten klare, persönliche Entscheidungen zu treffen.

Das scheint mir tatsächlich nicht so einfach zu sein. Wir müssen die Mehrdeutigkeit wahrnehmen, das Sowohl-als-auch und dann trotzdem persönlich Verantwortung übernehmen und mutig Entscheidungen fällen.

Ein neuer gesellschaftlicher Zusammenhang ist nun einmal der Weg zur Personalisierung. Das bedeutet, dass man – im Wortsinn – die Dinge “persönlich” nimmt, nicht mehr als ferne und nicht zu ändernde Entscheidungen der Politik.

Ok, es wird schwierig und tönt nach Arbeit. Allerdings erinnert uns Lotter an die Neugierde, wie sie für Kinder ganz selbstverständlich ist.

Wissbegier bedeutet, keine Angst vor Überraschungen und Neuem zu haben. Und dies ist ein Zeichen herausragender Intelligenz. Wissbegier ist der operative Teil der Neugierde.

Nur leider erleben wir oft, dass Neugierde nicht gern gesehen wird. Sie weicht nämlich von festen Vorgaben und Regeln ab und das widerspricht dem Plandenken der industriellen Gesellschaft (siehe auch Schule in der Taylorwanne).

Nach Schule und Ausbildung und ein paar Jahren Berufsleben im Routinetrott ist die Neugierde […] gezähmt. Wir sind dann nur noch neugierig, wo die Neugierde keine Folge für unsere Lebenspraxis hat. Der Profi tut, was man ihm sagt. Neugierig – und damit: selbst denkend – ist er nur in seiner Freizeit.

Wie tragisch! Dann wird Lotter noch deutlicher:

Die Welt ist voller fleissiger Fachidioten […]

Und für Lehrer sieht es ganz schlecht aus.

Paradigma und Realität passen nicht mehr zueinander. Besonders gefährdet von dieser Sichtweise [sind] in den Wissenschaften vor allen Dingen die, die die mit “fertigem Wissen” hantieren: Pädagogen und Didaktiker, also jene, die bereits bekanntes Wissen verbreiten – und damit eine Art Priester des bestehenden Paradigmas sind.

Unsere Gesellschaft ist gut darin, Strukturen so zu bewahren, wie sie schon immer waren. Fleiss macht es auch nicht besser. Lotter zitiert den französichen Philosophen Paul Virilio mit den Worten, dass wir uns in einem “Rasenden Stillstand” befinden.

Was wäre denn die Richtung, in die wir gehen sollten?

Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass wir optimal entscheiden können […]. Es genügt, wenn unsere Entscheidungen ausreichend sind, zufriedenstellend also.

Gerd Gigerenzer

Das erinnert mich an einen Grundsatz in der Soziokratie. Dort muss eine Entscheidungen lediglich gut genug für den Moment sein und sicher genug, um sie auszuprobieren.

Demokratie heisst, Komplexität nicht zu reduzieren, sondern zu erschliessen.

III. Der technologische Kontext

Dieses Kapitel fand ich weniger spannend.

IV. Der ökonomische Kontext

Jetzt wird es wieder interessant:

Das ökonomische Analphabetentum hat in ganz (Kontinental-)Europa eine lange Tradition. Kirche, Staat, Parteien und Medien haben die Leute stets vor dem “bösen Kapitalismus” und dem “gerissenen Kaufmann” […] gewarnt.

Lotter fordert uns auf, uns in den ökonomischen Kontext zu vertiefen.

Ein Mensch, der seinen ökonomischen Kontext nicht kennt, ist nicht emanzipiert und nicht selbstbestimmt. Kontextkompetenz in Ökonomie ist aber noch seltener als jene in Sachen Technik. Sie wird […] vor allen Dingen von der unseligen kontinentaleuropäischen Tradition einer Politik verhindert, die nicht ermächtigt, sondern verwaltet und befürsorgt.

… und so weiter

Jetzt fehlen mir noch gut hundert Seiten bis zum Ende des Buches. Nach dem “ökonomischen Kontext” geht es im Kapitel “Der organisatorische Kontext” um die Kunst, die richtigen Dinge zu tun. Darauf bin ich sehr gespannt. Und der Abschluss macht ein Kapitel über “die neuen Zusammenhänge”.