Meine Schulkarriere mit Fluchtversuchen

«Du warst doch immer gut in der Schule!», sagen mir Leute, die mich seit meiner Kindheit kennen. Ja, das stimmt. Ich bin einigermassen locker durchgekommen.

Primar- und Sekundarschule, Gymnasium, Studium und Lehramt. Insgesamt habe ich fast 20 Jahre auf der Schulbank verbracht! Als wäre das nicht genug, so bin ich als Lehrer wieder in die Schule zurückgekehrt.

Weil es mir leicht fiel zu erkennen und zu liefern, was das System Schule von mir verlangte, konnte ich den Aufwand auf ein Minimum reduzieren. Im Gymnasium kannte ich das Absenzenreglement auswendig und habe es bis ans Limit ausgereizt. Ganze Wochen habe ich geschwänzt, weil ich herausfand, dass die unentschuldigten Lektionen nur als einen Vorfall gewertet würden, wenn man alles am Stück fehlt. Im Studium habe ich die Vorlesungen ausgewählt, bei denen ich nicht anwesend sein musste. Auch bei Veranstaltungen mit Präsenzpflicht ging ich manchmal direkt auf die Pause hin, unterschrieb die Anwesenheitsliste und schlich sogleich wieder ab. Meine Studienkolleg:innen nannten mich «Hobby Student», weil ich so viel fehlte.

Ich hatte einen grossen Hunger nach Wissen. Zwischendurch war der Unterricht auch spannend. Aber sehr oft hatte ich das Gefühl, dass ich am falschen Ort war. Meine Lust am Lernen war einfach nicht synchron mit dem, was die Lehrpersonen mir verkaufen wollten.

So habe ich alles unternommen, um aus dem Schulzimmer zu flüchten. Wenn es physisch nicht ging, dann wenigstens in meinem Kopf, indem ich unter dem Pult mit dem TI-83 Taschenrechner programmierte oder ein Buch las. Das Lesen war schwierig, weil die Lehrperson mit ihrem Geschwätz störte.

Wissend um romantisierende Rückblicke, habe ich mir am letzten Schultag vor der Backsteinmauer meines Gymnasiums Folgendes eingeprägt: Hier war es nicht schön!
Wissend um romantisierende Rückblicke, habe ich mir am letzten Schultag vor der Backsteinmauer meines Gymnasiums Folgendes eingeprägt: Hier war es nicht schön!

Als ich mich plötzlich selbst als Lehrer in der Schule wiederfand, habe ich bald gemerkt, dass auch das nicht besser ist. Als Lehrer zu schwänzen ist dann doch recht schwierig. Und nun war ich sogar verantwortlich dafür, meine Schüler:innen im Zimmer und im Zaum zu halten. Sie wollten nicht dort sein und ich auch nicht. Das hat bei mir eine Sinnkrise über meinen Beruf ausgelöst. Warum nur bin ich Lehrer geworden? Ich wollte doch endlich aus der Schule raus!

Ich tat, was ich in einer solchen Situation meistens tue: Ich spreche mit Gott und frage nach seinem Rat. Plötzlich hatte ich einen Satz im Kopf:

«Mache dich selbständig!»

Ich hatte damals keine Ahnung, was das heisst und keine unternehmerische Idee. Mein Pensum habe ich aber reduziert und so versuchte ich mich neben der Schule in verschiedenen Projekten. Die meisten davon waren nicht erfolgreich. Zum Beispiel wollte ich eine Software schreiben für das automatisierte Erstellen und Layouten von Prüfungen. Auch nach vielen Monaten habe ich nie eine Version auf den Boden gebracht (vielleicht zum Glück, denn heute finde ich solche Prüfungen überflüssig).

So dauerte mein Weg aus der Schule heraus rund zehn Jahre mit immer kleinerem Arbeitspensum. Erst diesen Sommer ist mir die Flucht endlich gelungen und ich bin in keinem Schulzimmer mehr.

Manchmal frage ich mich im Rückblick:

«Was, wenn für mich schon als Kind die Türen der Schulzimmer nach draussen offen gestanden wären? Was, wenn mir die Erwachsenen gezeigt hätten, dass die Welt um mich herum formbar ist und mir Werkzeuge anvertraut hätten, um sie mitzugestalten?»

Erst mit 30 Jahren habe ich langsam gemerkt, dass viel von dem, was ich in der Schule gelernt hatte nicht nur unbrauchbar ist, sondern sogar falsch oder schädlich. Ein Teil sind fachliche Inhalte, die sich als falsch herausgestellt haben und die ich anfänglich sogar selbst als Lehrer reproduziert habe (sorry!). Doch schlimmer ist das, was in der Psychologie als «erlernte Hilflosigkeit» bezeichnet wird. Durch die Erfahrungen im hierarchischen Machtsystem der Schule lernen Schüler:innen, dass sie nichts beeinflussen können. Sie dürfen sich nicht einmal frei bewegen, geschweige denn auf ein Mitspracherecht bei der Gestaltung des Schulalltages hoffen.

An Zynismus kaum zu überbieten ist, wenn im Machtsystem einer Schule die Autoritätsperson eine Folie auflegt über demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten in unserem Land.

Man braucht kein Hirnforscher zu sein, um zu erkennen, was hier nachhaltig über Demokratie gelernt wird. Tipp: Es ist nicht die Theorie auf der Folie.

Die hierarchischen Machstrukturen einer Schule sind ein denkbar ungünstiges Umfeld, um Demokratie und Mitwirkung zu lernen.
Die hierarchischen Machstrukturen einer Schule sind ein denkbar ungünstiges Umfeld, um Demokratie und Mitwirkung zu lernen.

Partizipations- und Selbstwirksamkeitserfahrungen sind leider seltene Gäste in der Schule. Doch genau das wäre nötig, wenn wir mündige Bürger:innen möchten, die nicht nur unsere Demokratie mittragen, sondern es auch wagen, die Wirtschaft und Gesellschaft mit besseren Ideen zu prägen.

Im Coworking Space Effinger durfte ich eine Community erleben, die für mich sehr heilsam war. Bei neuen Ideen wird man ermutigt, bei riskanten Vorhaben unterstützt und bei Misserfolgen zum Bier eingeladen. Dies ist kein Vergleich zur Kultur, wie ich sie in vielen Schul- oder Lehrerzimmern erlebt habe, obwohl es die gleichen Menschen sind!

So habe ich über die letzten zehn Jahre entdeckt, dass ich nicht nur Teil einer Gesellschaft bin, sondern diese auch wesentlich mitgestalten darf und kann. Dies wollte ich eigentlich schon als Jugendlicher und als junger Erwachsener. Doch die Türen waren verschlossen oder die Hürden zu hoch.

Ich hoffe, dass ganz viele Kinder und Erwachsene aus dem (physischen und mentalen) System Schule entkommen. Denn da draussen gibt es ganz viel zu lernen. Und es braucht euch, denn es gibt viel zu tun, zu gestalten und zu reparieren!

Heute setze ich mich dafür ein, damit Türen für andere aufgestossen werden. Ich möchte selbst ein Gestalter sein und ein Ermöglicher für andere.


  • Bild von gelangweiltem Schüler: Generiert durch Dall-E (“An oil pastel drawing of a bored student”).
  • Bild von roter Backsteinwand: Generiert durch Dall-E (“An oil pastel drawing of a red brickstone wall”).
  • Bild von Lehrer, der die Demokratie predigt: Generiert durch Dall-E (“An oil pastel drawing of a teacher with a stick”) und eigene Bildbearbeitung.