In diesem Artikel geht es um Belp, ein Dorf mit gut 10'000 Einwohner:innen in der Nähe von Bern. Es könnte aber auch irgendwo sonst sein. Wie viele andere Gemeinden steht Belp vor der Entscheidung, die Schulinfrastruktur zu sanieren, zu erweitern oder gar eine neue Schule zu bauen. Bei genauerem Hinsehen stellt sich jedoch eine viel grundsätzlichere Frage: Wie soll das Lernen der Zukunft aussehen?
Sackgasse in der Schulhaus-Sanierung
Die Schulraumplanung 2018 hat gezeigt, dass bei den Schulhäusern umfangreiche Sanierungen und Erweiterungen nötig sind. Für mehrere Schulen und Kindergärten zusammen wurden zunächst 70 Millionen Franken veranschlagt. Das wäre für Belp schon ein ganz schöner Brocken gewesen, aber von da an wurde es immer komplizierter und teurer.
In einem Schulhaus wurden Schadstoffe gefunden, also sollte dieses umfassend saniert werden. Doch die Sanierung überzeugte die Bevölkerung nicht. Sie wurde abgelehnt 🙅.
Daraufhin wurde ein aufwändiger Architekturwettbewerb für einen Neubau durchgeführt. Das Siegerprojekt hätte rund 80 Millionen Franken gekostet. Auch das wurde von der Bevölkerung klar abgelehnt 🙅.
Wie lässt sich diese Sackgasse überwinden? Vielleicht bietet sie gerade die Chance, innezuhalten und darüber nachzudenken, wie Bildung und unser Zusammenleben im Dorf aussehen sollen.
Schulsystem in der Krise: Raum für Neues
Unsere Schulen stossen zunehmend an ihre Grenzen. Der Schulraum ist knapp, die Lehrer:innen sind überlastet und das Bildungssystem ist aus der Zeit gefallen. Der Versuch, diese Probleme durch eine einfache Sanierung und Erweiterung der bestehenden Infrastruktur zu lösen, greift zu kurz. Gefragt sind Lösungen, die nicht nur eine neue Schulstruktur schaffen, sondern auch der heutigen Arbeits- und Lebenswelt gerecht werden.
Was machen wir nun mit den schönen und teuren Plänen aus dem Architekturwettbewerb? Zusammenstreichen und nur das Nötigste bauen? Ein Sparprogramm, das niemanden glücklich macht und trotzdem teuer bleibt? Nein.
Ein riesiges Bauprojekt auf dem gleichen Gelände motiviert auch nicht. Denn Lehrer:innen und Schüler:innen müssten während der Bauphase weitere Unannehmlichkeiten hinnehmen. Das kann bis zu 10 Jahre dauern. Keine gute Nachricht für eine Schule, die ohnehin schon an der Belastungsgrenze ist.
Die Vision: Das lernende Dorf
Wir brauchen eine neue Vision. Ich nenne diese Vision das “lernende Dorf”. Ein gemeinschaftlicher Prozess, in den wir alle Beteiligten - unabhängig von Alter und Hintergrund - einbeziehen. Erfreulicherweise hat der Gemeinderat von Belp beim Mühlematt-Projekt bereits eine breite Mitwirkung angekündigt.
Das “lernende Dorf” ist ein Konzept, das auf Partizipation und nachhaltige Entwicklung ausgerichtet ist. Die Schule ist Teil des Dorfes und das Dorf Teil der Schule. Eine Gemeinschaft, die auf gemeinsames Lernen und die Mehrfachnutzung von Ressourcen setzt.
Beim lernenden Dorf geht es nicht um den Endzustand, sondern um den Weg. Unser Ziel muss es sein, ab dem Start eine bessere Situation für alle zu schaffen. Speziell für die Lehrer:innen und für die Kinder, die jetzt in der Schule sind, müssen wir den Weg so gestalten, dass die kommenden Jahre Erleichterung bringen und Freude bereiten.
Der Weg: Räume erschliessen und Pilotprojekte starten
Der Weg beginnt mit dem, was wir bereits haben, anstatt etwas völlig Neues zu bauen. Wir sollten eine Karte der potenziell nutzbaren Orte in unserem Dorf erstellen: leerstehende Bürogebäude, Restaurants, Ladenlokale, Kirchengebäude, Bibliotheken und vieles mehr (dieser Prozess wird auch “Asset Mapping” genannt).
Wie ich kürzlich in einem anderen Artikel beschrieben habe, stehen wir vor dem Ende des Klassenzimmers. Immer weniger wird frontal vom Lehrerpult aus unterrichtet. Das Lernen wird individueller und stärker durch die Schüler:innen selbst gesteuert. Dafür braucht es andere Räume. Am besten ein vielfältiges Raumangebot, in dem die Schüler:innen selbst die optimale Umgebung für ihre Lernvorhaben wählen können.
Lernen kann überall stattfinden. Wir haben heute die technischen Möglichkeiten und genügend Beispiele, wie Lernen so organisiert werden kann, dass es verteilt und in ganz unterschiedlichen Räumen stattfinden kann.
Das geht nicht von heute auf morgen. Es braucht neue pädagogische Konzepte und eine enge Mitwirkung der Schule, der Kinder und der Eltern. Es braucht Pilotprojekte, um zu sehen, was funktioniert und was nicht. Und schliesslich braucht es das ganze Dorf, das bereit ist, sich auf diesen Weg zu begeben, zu lernen und für die nächste Generation da zu sein.
Die Investition: Belp für alle Generationen
Jede Million, die wir in den nächsten Jahren einsetzen, sollte dazu dienen, Belp für alle heutigen und zukünftigen Generationen zu verbessern. Klassenzimmer, wie man sie vor hundert Jahren gebaut hat, sind unflexibel und nicht attraktiv für andere Nutzungen. Wer will sich schon in der Freizeit in solchen Räumen aufhalten? Die Folge ist eine sehr geringe Auslastung der Schulliegenschaften von nur 20 Prozent (siehe Kasten).
Eine grobe Rechnung für die Auslastung von Schulliegenschaften mit Klassenzimmern, die nur für Unterricht verwendet werden können:
An einem Schultag sind die Räume im Schnitt von 8 bis ca. 15 Uhr besetzt (manche am Nachmittag mehr, manche am Nachmittag gar nicht). Davon 1.5 Stunden Mittag. Somit sind sie rund 5-6 Stunden besetzt, also weniger als den halben Tag. Rechnet man mit 14 Stunden (z.B. 7 bis 21 Uhr) hat ein typischer Schultag eine Auslastung von 40%.
Über Mittag, teilweise am Nachmittag und immer am Abend sind sie leer. Am Wochenende sind sie leer und in den Ferien stehen sie die ganze Woche leer.
Total haben wir 38 Schulwochen pro Jahr à 5 Tage. Das sind 190 Schultage mit einer Auslastung von 40%. Bei 365 Tagen gibt dies eine jährliche Auslastung der Schulgebäude von 20%.
Wenn wir so viel Geld in das Dorf investieren, so müssen wir darauf achten, dass wir nicht nur für die Schule bauen, sondern dass möglichst viel Infrastruktur mehrfach und ganz unterschiedlich genutzt werden kann. Dafür gibt es erpropte Konzepte, die in innovativen Schulen oder in Coworking und Colearning Spaces seit Jahren umgesetzt werden.
Es sind hybride Räume, die für verschiedene Zwecke genutzt werden können. Räume, die für die Schule, aber auch für die Gemeinde, für Vereine, für Gewerbe, für Feste und Kulturanlässe genutzt werden können. Räume, die für alle Generationen zugänglich sind.
Der Dorfkern: ein Lern- und Begegnungsort
Für den Dorfkern von Belp wurde bereits 2016 eine Testplanung durchgeführt, welche ein grosses Potenzial für die Schaffung von zusätzlichem Schulraum, Werkstätten und neuen Büroarbeitsplätzen aufzeigte. Die Schulanlage Mühlematt hingegen liegt am Dorfrand, was eine Mehrfachnutzung erschwert. Der Dorfkern wäre dank seiner zentralen Lage ein idealer Ausgangspunkt für Pilotversuche zum lernenden Dorf.
In einem ersten Schritt sollten die bestehenden Gebäude im Dorf daraufhin überprüft werden, ob sie für eine schulische Nutzung erschlossen und für die Allgemeinheit aufgewertet werden können.
Dann werden wir natürlich immer noch Sanierungsbedarf in der Schulanlage Mühlematt haben. Aber wir können uns überlegen, was an diesem Standort ideal und notwendig ist. Und wenn es uns gelingt, für die Übergangszeit genügend andere Lernorte zu schaffen, können wir auf teure Provisorien in Containern verzichten, die keinen langfristigen Wert für das Dorf haben.
Wie das konkret aussieht, das müsste gemeinsam entwickelt werden. Wichtig ist die Gesamtsicht auf das Dorf. Wo können Beteiligte mitwirken und mit Pilotprojekten beginnen? Wo kann mit wenig Geld viel erreicht werden? Wo sind Synergien und Mehrfachnutzungen möglich?
Zusammenfassung
In diesem Artikel wurden die Herausforderungen diskutiert, vor denen Belp bei der Weiterentwicklung seiner Schulinfrastruktur steht. Angesichts der bisher gescheiterten Projekte wurde hier eine neue Vision vorgestellt: Das lernende Dorf. Diese Vision geht weit über reine Bauprojekte hinaus und zielt darauf ab, das ganze Dorf in den Lernprozess einzubeziehen. Durch die Schaffung flexibler Lernumgebungen und die Nutzung vorhandener Ressourcen wird eine Verbesserung der Bildungs- und Lebensqualität in Belp angestrebt, von der heutige und zukünftigen Generationen gleichermassen profitieren. Das lernende Dorf bedeutet, dass wir uns als Dorfgemeinschaft auf einen Weg begeben. Wir verbessern sorgfältig einen Bereich nach dem anderen, starten Pilotprojekte und betrachten Fehler als wertvolle Lernchancen. Dies ist nicht nur eine Vision, sondern ein Aufruf zum Handeln, zur Mitwirkung und zur Teilhabe.
Bildquellen
- Titelbild: Generiert mit Midjourney (“A hand-drawn style image of a bustling village surrounded by lush greenery, with visible structures including a school, library, church, commercial and residential buildings, all connected by winding cobblestone paths, people everywherer, signifying a well-knit community, in muted, earthy colors –ar 16:9”)
- Karte: Google Maps