Das Ende des Klassenzimmers

Das Klassenzimmer passt nicht in die heutige Zeit und wird den individuellen Bedürfnissen der Lernenden nicht gerecht. Wir brauchen neue Lernumgebungen mit Wahlmöglichkeiten für Lernende.

In dieser Serie geht es um Lernen aus intrinsischer Motivation. Wenn man von einem Schulsystem umgeben ist, das auf externem Druck und Machthierarchien basiert, braucht es kreative Hacks, damit solches Lernen gelingen kann. Achtung, manche dieser Hacks können im sozialen System Schule eine Immunreaktionen auslösen!

  1. Einführung
  2. Auf Augenhöhe
  3. Jede Idee ernst nehmen
  4. Wie ich die Noten abschaffte
  5. Das Ende des Klassenzimmers ← du bist hier
  6. IKIGAI, die Schule und das Leben (folgt)
  7. Ein anderes Bildungssystem ist ganz einfach möglich (folgt)
  8. usw.

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Es ist Zeit, dass wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass Lernen in einem Klassenzimmer stattfindet. Klassenzimmer sind unfreundliche Orte für Menschen und ihr Lernen. Sie sind nicht dafür gemacht, dass Menschen darin lernen, sondern dass darin unterrichtet wird. Das ist ein grosser Unterschied.

Frontalbeschallung mit Macht und Kontrolle

Klassenzimmer mit Lehrerpult und Sitzreihen sind optimiert auf Wissensvermittlung. Bei der typischen Schulzimmerarchitektur geht es darum, dass Lehrpersonen ihre Bühne haben, von der sie ihr Wissen den Unwissenden verkünden. Es geht um Gleichschritt, Gehorsam und Kontrolle, damit alles wie in einer gut geölten Fabrik ablaufen kann.

Es ist 2023 und langsam dämmert uns: Ist diese Schule das, was wir heute brauchen? Ist sie wirklich das, was wir wollen? Für unsere Kinder und für uns? Für die Gesellschaft von heute und morgen?

Je länger wir am Klassenzimmer festhalten, desto grösser werden die Spannungen zur Welt ausserhalb (siehe dazu auch Schule in der Taylorwanne). Und das macht sowohl die Schüler:innen wie auch die Lehrer:innen krank.

Gruppenräume sind keine Lösung

Klassenräume sind für Frontalunterricht optimiert und sind für fast alle anderen Lernformen hinderlich: Bei Teamarbeit ist es zu laut, da die Akustik nicht für mehrere Gespräche ausgelegt ist. Die Möblierung macht es schwierig, dass Gruppen überhaupt sinnvoll zusammenarbeiten können. Bei Einzelarbeit können sich viele nicht konzentrieren, weil sie abgelenkt werden oder es zu laut ist. Individuelle Bedürfnisse nach Ruhe, Dunkelheit, Licht, Bewegung, Haltungswechsel etc. können nicht befriedigt werden.

Häufig kommt nun der Ruf nach mehr Gruppenräumen. Klassenräume werden aber nicht aufgegeben. Das Paradigma bleibt erhalten. Der Unterricht beginnt immer noch im Klassenzimmer, die Anweisungen kommen vom Lehrerpult. Gleichschritt, Macht und Kontrolle bleiben. Der einzige Unterschied ist, dass die Schüler:innen gelegentlich in Gruppenräume geschickt werden, um den Lärm im Klassenzimmer zu reduzieren.

Also das Gleiche wie bisher, nur auf mehr Fläche verteilt. Das ist keine Lösung, das ist Bestandserhaltung.

💸 Was den Steuerzahler interessieren könnte: Klassenzimmer mit Gruppenräumen sind ein teures Modell. Mehr Fläche bedeutet höhere Baukosten, mehr Möbel, mehr Energie, mehr Unterhalt. Und das vor allem für ein Klassenzimmer, das dazu da ist, am Auslaufmodell des Gleichschritts und der Frontalbeschallung festzuhalten.

Selbstgewählte Lernumgebung

Eine zeitgemässe Lernumgebung stellt die Lernenden und ihr Lernen in den Mittelpunkt und nicht den Unterricht. Wir wissen längst, dass Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben und sich sehr unterschiedlich entwickeln. Wenn wir uns vom Klassenzimmer und damit von der Gleichmacherei verabschieden, können wir den individuellen Bedürfnissen viel besser gerecht werden.

Wie machen wir das? Wir geben den Lernenden die Freiheit, sich ihre Lernorte selbst zu wählen. Dazu braucht es ein vielfältiges Angebot: offene Landschaften, Nischen, kleine und grosse Räume, ruhige Arbeitsplätze und Aussenbereiche (in der Art von Coworking oder Colearning Spaces). Natürlich braucht es weiterhin ein paar Räume, die für Frontalbeschallung optimiert sind. Aber es braucht viel weniger davon, und die Veranstaltungen, die dort stattfinden, sind ein Angebot, das die Lernenden wahrnehmen können oder auch nicht.

Wir leben in einer Welt, in der Wissen und Inhalte keine Mangelware mehr sind. Nicht nur Inhalte sind auf Knopfdruck verfügbar, sondern auch Werkzeuge, die dank künstlicher Intelligenz individuell auf die Lernenden eingehen können. Diese digitalen Helfer werden bald so gut sein wie eine Lehrperson im 1:1-Coaching.

Es braucht nach wie vor Bezugspersonen und Bezugsgruppen. Aber es braucht keine Klassen und keine Klassenzimmer mehr. Keine Einteilung der Kinder nach Herstellungsdatum. Und wenn diese ineffiziente Form der Wissensvermittlung wegfällt, können wir uns endlich auf das konzentrieren, was Lernen am besten fördert: gute Beziehungen!

Mehrfachnutzung: ein Vorteil für alle

Wenn die Lernenden die Freiheit erhalten und die Verantwortung übernehmen, für ihre Aufgaben und Bedürfnisse die entsprechenden Orte selbst zu wählen, ist das nicht nur für die Lernenden besser, sondern die ganze Schule und die Bevölkerung profitieren davon:

Mehrfachnutzung von Schulraum: Traditionelle Schulgebäude mit Klassenräumen haben eine geringe Auslastung. Gebäude mit einem vielfältigen und attraktiven Raumangebot (Coworking oder Colearning Spaces) können so gestaltet werden, dass eine Mehrfachnutzung möglich wird. Es sind Räume, in denen nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene gerne lernen, arbeiten und leben. Es sind Räume, die nachmittags und abends, am Wochenende oder in den Ferien genutzt und vermietet werden können. Das spart Kosten und bringt zusätzliche Einnahmen.

Erschliessung und Aufwertung bestehender Räume: In einem Dorf oder Quartier gibt es oft ungenutzte oder wenig genutzte Räume (Büros, Kirchengebäude, Restaurants, geschlossene Ladenlokale usw.). Wenn wir die Normgrösse der Klassenzimmer aufgeben und ein vielfältiges Raumangebot zusammenstellen, werden solche Räume in der Umgebung zusätzlich nutzbar. Es muss viel weniger spezifisch für die Schule gebaut werden, was weitere Kosten spart und die Umwelt schont.


Titelbild: Generiert mit Dall-E (“an illustration of a classroom, digital art”).