Auf Augenhöhe

Die Sie-Kultur und die Positionierung der Lehrperson hinter dem Lehrerpult machen es schwierig, den Lernenden auf Augenhöhe zu begegnen. Man kann es aber ändern.

In dieser Serie geht es um Lernen aus intrinsischer Motivation. Wenn man von einem Schulsystem umgeben ist, das auf externem Druck und Machthierarchien basiert, braucht es kreative Hacks, damit solches Lernen gelingen kann. Achtung, manche dieser Hacks können im sozialen System Schule eine Immunreaktionen auslösen!

  1. Einführung
  2. Auf Augenhöhe ← du bist hier
  3. Jede Idee ernst nehmen
  4. Wie ich die Noten abschaffte
  5. Das Ende des Klassenzimmers
  6. IKIGAI, die Schule und das Leben (folgt)
  7. Ein anderes Bildungssystem ist ganz einfach möglich (folgt)
  8. usw.

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Wenn man mit anderen Gesellschaftsbereichen vergleicht, so fällt auf, dass in der Schule erstaunlich viele Überbleibsel aus den letzten Jahrhunderten haften geblieben sind. Ein paar Beispiele:

  • Warum gilt an Schulen, auch wenn die Lernenden bereits erwachsen sind, immer noch eine Sie-Kultur?
  • Warum gibt es in jedem Schulzimmer ein Lehrerpult vorne und die immer gleichen Sitzreihen für Lernende?
  • Warum haben die älteren Lernenden nicht auch Zugang zur gleichen Kaffeemaschine, wie die Lehrpersonen? Im Lehrbetrieb geht das doch auch.
  • Wozu gibt es überhaupt Lehrerzimmer?
  • Usw.

All diese kleinen Dinge sind Ausdruck einer Kultur, die eine Distanz schafft. Manche Lehrpersonen schätzen diese Distanz. Vermutlich sehen sie darin einen Schutz und ein Gefühl von Autorität.

Für mich war diese Distanz aber ein Problem. Sie erschwerte, dass ich den Lernenden auf Augenhöhe begegnen und gemeinsam mit ihnen an Projekten arbeiten konnte.

Du-Kultur einführen

Schon seit mehreren Jahren treffe ich praktisch keine Person mehr in der Arbeitswelt, mit der ich nicht ab dem ersten Gespräch auf «Du» bin. Auch viele Lernende können im Lehrbetrieb ihre Vorgesetzten mit «Du» ansprechen.

Dann kommen sie in die Schule und landen in einer Sie-Kultur mit den Lehrpersonen. Entweder ist dies in einem Reglement der Schule festgelegt oder einfach die Norm.

Auch an meiner Berufsschule war es so. Ich habe trotzdem den Lernenden in der ersten Stunde angeboten, uns gegenseitig mit «Du» anzusprechen. Dies hat sich bewährt.

Wie finden die Lernenden die Du-Kultur?

Am Ende eines Semesters habe ich die Lernenden befragt, was sie zur Du-Kultur meinen. Nachfolgend ein paar Zitate aus den Feedbacks.

Ich finde man fühlt sich so viel wohler.

Luca* (18)

Es baut eine bessere menschliche Beziehung zum Lehrer auf. Obwohl ich meine Zweifel hatte was den Respekt der Lehrperson angeht, hat das sehr gut geklappt.

Jessica* (17)

Ich finde das weniger gut, da ich in der Schule daran gewohnt bin, die Lehrer mit Sie anzusprechen. Das hat mich ein wenig verwirrt.

Mauro* (17)

Ich finde dies sehr angenehm, weil man viel offener diskutieren und besprechen kann.

Stefanie* (17)

Man fühlt sich automatisch wohler. Ich mag es persönlich nicht so, wenn mich Leute Siezen. Es bringt eine ernste Stimmung. So fand ich es besser und habe mich sehr wohl gefühlt. Ich musste mich zwar eine Zeit lang daran gewöhnen und habe dich aus Gewohnheit manchmal trotzdem mit “Sie” angesprochen.

Sarah* (18)

Die Hierarchie im Raum reduzieren

Weil ich das Muster durchbrechen wollte, dass die Lernenden ständig auf mich und meine Erwartungen fokussiert waren, habe ich auch mit dem Schulzimmer experimentiert. Umstellen war schwierig, weil ich jeweils in einem fest verkabelten PC-Zimmer war.

Beim Lehrerpult hatte ich auf dem PC eine Übersicht über alle Bildschirme der Lernenden. Diese Big-Brother-Überwachung ist natürlich ein weiteres Machtinstrument, das die Hierarchie weiter verankert.

Um dieses Muster zu durchbrechen, habe ich mich manchmal zu den Lernenden in die Tischreihen gesetzt. Dies hat die Situation völlig umgedreht. Jetzt sahen alle hinter mir auf meinen Bildschirm. Natürlich machte mich dies auch verletzlich. Aber genau daraus kann eben auch eine andere Form von Autorität wachsen, die man vielleicht eher als Leiterschaft bezeichnen könnte.

Aus praktischen Gründen habe ich den Sitzplatzwechsel nicht allzu oft umgesetzt. Einfacher war es, die Gruppen den Ort auswählen zu lassen, an dem sie am produktivsten arbeiten konnten. So haben sie sich im Zimmer, im Schulhaus und ausserhalb der Schule verteilt. Ich konnte mich dann mit meinem Laptop zu den Gruppen hinsetzen und sie in ihrer Arbeit unterstützen. Falls sie ausserhalb der Schule waren, habe ich mich mit ihnen zu einer Videokonferenz verabredet.

Nicht die Quelle des Wissens sein wollen

Auch das Muster, dass die Lehrperson die Quelle des Wissens ist, wird durch die Hierarchie im Raum verkörpert. Darüber könnte man viel schreiben, das Problem wird jedoch schnell offensichtlich:

Wenn ich nur den groben Rahmen vorgebe und die Lernenden ihre Projekte und Themen selber wählen, dann resultiert eine grosse Vielfalt. Je leidenschaftlicher sie unterwegs sind, desto bunter wird es. Ab da kann man es als Lehrperson sowieso vergessen, sein eigenes Drehbuch durchzuziehen und in jedem Bereich den Lernenden voraus zu sein.

Die Quelle des Wissens sein zu wollen ist ein sinnloser Stress. Wer es trotzdem versucht, wird entweder ausbrennen oder, was meistens geschieht, alle wieder auf den gleichen Pfad zurechtstutzen. Und schwupps ist es vorbei mit individualisierten und intrinsisch motivierten Lernprozessen.

Ich finde, es ist eine viel schönere Aufgabe, Lernen zu begleiten anstatt Wissen zu vermitteln. Die Standup Meetings (siehe vorgängiger Blogeintrag) haben sich als sehr hilfreich erwiesen, um die Arbeit und die Lernprozesse zu moderieren. Weil diese Meetings im ganzen Klassenverband stattfanden, haben sie auch voneinander mitbekommen, wer in welchem Bereich Kenntnisse erworben hat, mit denen sie sich gegenseitig unterstützen konnten.

Gut moderiert, verläuft das Meiste mit minimalem Aufwand. Ich konnte mich dann auf die kniffligen Fragen konzentrieren und mich zusammen mit den Lernenden auf die Suche nach Antworten machen.

Hilfreich war für mich auch das Netzwerk aus meiner Arbeitswelt. Anstatt mir die Antwort zu holen und sie vorgekaut an die Lernenden weiterzureichen, habe ich ihnen jeweils direkt die entsprechenden Kontakte vermittelt.

Gerne hätte ich noch mehr Ressourcen aus dem Lehrerkollegium genutzt, denn da ist so viel, das man gemeinsam abdecken könnte. Leider sind andere Lehrpersonen im Schulhaus zwar in der Nähe, jedoch hinter verschlossener Tür in ihren Klassenzimmern. Bereits die Architektur macht eine Zusammenarbeit fast unmöglich. Und natürlich sind die meisten sowieso nicht verfügbar, weil sie während der ganzen Lektion als Wissensvermittler und Arbeitsblattdompteure im Zentrum des Geschehens stehen.

Zum Glück machen immer mehr Lehrpersonen ähnliche Erfahrungen. Hoffentlich werden wir bald eine flexiblere Architektur und offenere Tagesstrukturen erleben, die mehr Kollaboration möglich machen.

Fazit

Sicher ist es mir nicht immer gelungen, auf Augenhöhe mit den Lernenden zu sein. Aber all diese Versuche haben die Distanz reduziert, ohne dass ich je das Gefühl gehabt hätte, dass dadurch meine Autorität gelitten hätte. Im Gegenteil. Die Lernenden haben gespürt, dass ich es ernst meine. Und weil ich mich verletzlich gezeigt habe, hatten sie auch weniger Hemmungen, über ihre echten Ideen und Wünsche zu sprechen.

So schrieb eine Lernende:

Ich finde sehr gut wie du den Unterricht gestaltest. Ich schätze es sehr, dass wir auf uns alleine gestellt sind, aber trotzdem immer deine Hilfe bekommen, wenn wir sie brauchen. Man fühlt sich in deinem Unterricht nicht so verurteilt, wenn man etwas nicht direkt kann, wie z.B. bei anderen Lehrern.

Samantha* (18)


*Namen der Lernenden wurde geändert.

Titelbild: Generiert mit Dall-E (“an illustration of a young person talking to an older person with a speech bubble with the text ‘du’, digital art”).